Militärs und Politiker in aller Welt versuchen beinahe schon verzweifelt, einen besseren Blick in die Zukunft zu erlangen. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem technologische Ansätze. Mithilfe von Big Data und künstlicher Intelligenz soll versucht werden, zukünftige Krisen frühzeitig zu identifizieren. In Deutschland wird daran unter anderem an der Universität der Bundeswehr in München gearbeitet. Bis zum Jahr 2025 stehen dafür rund 2,6 Milliarden Euro zur Verfügung. An der Universität Tübingen verfolgt Jürgen Wertheimer, Professor für vergleichende Literatur, hingegen einen deutlich kostengünstigeren Ansatz. Seine Theorie: Veränderungen in der literarischen Tradition eines Landes können auf sich anbahnende (Bürger)kriege hindeuten. Eine systematische Analyse könnte so dafür sorgen, dass die zugrundeliegenden Konflikte rechtzeitig angegangen werden können. Im Idealfall ließen sich so humanitäre Katastrophen vermeiden. Vor einigen Jahren wandte er sich mit dieser Idee auch an die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Bild: Bookshelves, Germán Poo-Caamaño, Flickr, CC BY-SA 2.0 Bei vergangenen Konflikten wurden Hinweise übersehen Diese antwortete zwar nicht persönlich. Tatsächlich interessierte sich die Bundeswehr aber für die Thematik und finanzierte ein Forschungsprojekt namens Cassandra. Darin sollten die Forscher zunächst einmal rückwirkend aufzeigen, wie sich aus der Literaturanalyse Hinweise auf den Aufstieg von Boko Haram und den Ausbruch des Kosovo-Konflikts hätten erkennen lassen können. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit erkannten die Forscher dann, dass eine reine Textanalyse nicht ausreichend ist. Stattdessen muss immer mit einbezogen werden, wie die Bücher aufgenommen und eingesetzt wurden. So verwiesen die Literaturwissenschaftler im Fall des Jugoslawien-Konflikts auf zwei entscheidende Ereignisse. So gab es im Jahr 1983 Aufregung um ein Theaterstück von Jovan Radulović, in dem kroatische Verbände ein Massaker an den benachbarten Serben begingen. 1986 wiederum mussten sämtliche nicht-serbische Schriftsteller den serbischen Autorenverband verlassen. Das Ziel: Black Swan Events korrekt voraussagen Im Nachhinein solche Hinweise auf ein Ereignis zu finden, ist allerdings keine große Kunst. Experten sprechen von sogenannten Black Swan Events. Diese sind selten, haben extreme Auswirkungen, kommen unerwartet und lassen sich erst in der Retrospektive erklären. Die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 sind ein solches Beispiel. Natürlich gab es schon im Vorfeld Hinweise, auf entsprechende Planungen. Diese ergaben für die Behörden aber erst nach dem einschneidenden Ereignis Sinn. Die Königsdisziplin besteht daher darin, Prognosen bereits im Vorfeld treffen zu können. Erstaunlicherweise konnten die Literaturwissenschaftler im Laufe ihres Forschungsprojekts hier auf einige Erfolge verweisen. So entdeckten sie, dass in Algerien einige eigentlich verbotenen Bücher weiterhin stark zirkulierten und diskutiert wurden. Sie sahen daher in dem eigentlich als stabil geltenden Land Veränderungen kommen. Tatsächlich brachen im Jahr 2019 Massenproteste aus und der langjährige Herrscher Abd al-Aziz Bouteflika musste abdanken. Der Krieg um Bergkarabach wurde erfolgreich prognostiziert Außerdem entdeckten die Forscher, dass Aserbaidschan die Bibliotheken in Nachbarländern wie Georgien mit Anti-Armenischer-Literatur versorgte. Dies interpretierten sie als kriegsvorbereitende Propaganda. Tatsächlich eroberte Aserbaidschan einige Jahre später große Teile der umstrittenen Region Bergkarabach zurück. Unabhängige Experten waren von den Ergebnissen des Forschungsprojekts daher durchaus begeistert. Denn während Big Data und künstliche Intelligenz zumeist nur Entwicklungen in den nächsten Monaten prognostizieren können, ergaben sich die Hinweise aus der Literaturanalyse bereits Jahre im Vorfeld. Dementsprechend mehr Zeit hätte die internationale Politik, um präventiv einzugreifen. Inzwischen allerdings mussten Wertheimer und sein Team ihre Arbeit einstellen. Denn die Bundeswehr hat keine weitere Förderung mehr bewilligt. Warum dies so ist, darüber rätseln viele Experten. Einige vertreten die Theorie, dass ein wichtiger Befürworter des Projekts schlicht den Posten gewechselt hat. Wie geht es weiter mit dem Forschungsprojekt? Andere wiederum meinen etwas zynisch, das Projekt sei schlicht zu erfolgreich gewesen. Denn wie sollten sich die Milliarden für die KI-Forschung rechtfertigen lassen, wenn ein viel einfacherer Ansatz sogar bessere Resultate erbringt? Woran es nun genau lag, werden wohl nur die entscheidenden Personen wissen. Zumindest war das Projekt aber so erfolgreich, dass Interesse von außerhalb generiert wurde. So wird aktuell darüber verhandelt, die Forschung im Rahmen der Europäischen Union fortzusetzen. Diese war in den letzten Jahren unter anderem von den Entwicklungen in der Ukraine und in Weißrussland überrascht worden – und könnte daher einen Blick in die Zukunft sehr gut gebrauchen. Auch das deutsche Innenministerium hat sich bei den Forscher gemeldet. Dabei geht es aber nicht um eine Prognose für die Zukunft, sondern um eine Analyse der Vergangenheit: Die Forscher sollen schauen, inwiefern sich die Probleme der deutschen Einheit auch in der fiktiven Literatur wiederfinden. Via: The Guardian Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter