Systeme wie ChatGPT oder Alphafold machen unmissverständlich klar, dass in Sachen KI-Systemen ein Entwicklungssprung stattgefunden hat. Lernfähige Algorithmen und neuronale Netzwerke verfassen Texte, erstellen Bilder oder meistern Spiele. Aber nicht nur das – auch in Forschung und Wissenschaft spielen sie eine wichtige Rolle, indem sie etwa Proteinstrukturen entschlüsseln, Krankheiten diagnostizieren oder mathematische Beweise finden. Ein neues KI-System kann nun auch Grundprinzipien wissenschaftlicher Entdeckungen einsetzen und so quasi eigenständig forschen. Bei ersten Tests konnte das System auf der Basis unbereinigter Rohdaten und physikalischen Hintergrundwissens eigenständig korrekte Formeln physikalischer Gesetze „wiederentdecken“, ohne dass diese vorher bekannt gewesen wären. Von einer großen Formelmenge… „Wissenschaftler suchen nach Gleichungen und Gesetzmäßigkeiten, die ihre experimentellen Daten akkurat beschreiben„, erklären Forscher:innen rund um Cristina Cornelio von IBM Research in New York. Die Herausforderungen liegen bei dieser Arbeit zum einen darin, in großen Datenmengen diejenigen zu erkennen, die die Informationen über Gesetzmäßigkeiten enthalten. Zum anderen wird Wissen, wissenschaftliche Kreativität und Intuition benötigt, um auf Basis dieser Daten und des bestehenden Hintergrundwissens neue Zusammenhänge zu erkennen und dann mittels Gleichungen zu beschreiben. Die Forscher:innen von IBM Research wollten der Frage nachgehen, ob auch eine künstliche Intelligenz diese Transferleistung leisten kann. Zu diesem Zweck entwickelten sie ein KI-System, in dem zwei bereits gängige Ansätze kombiniert wurden. Der erste dieser Ansätze ist die sogenannte symbolische Regression. Dabei wählt die KI aus einer Anzahl vorgegebener Rechenoperationen diejenigen aus, die am besten zu den Daten passt und stellt daraus eine Formel zusammen. Das KI-System erzeugt aus den vorgegebenen Formelbausteinen Millionen Gleichungen und überprüft dann, welche davon am besten zu den vorhandenen Daten passen. „ Solche symbolischen Regressionsmodelle sind typischerweise besser interpretierbar als neuronale Netzwerke und erfordern weniger Daten. Allerdings haben sie Probleme damit, unter den zu den Daten passenden Formeln diejenigen zu identifizieren, die auch in wissenschaftlicher Hinsicht Sinn ergeben„, erklären die Wissenschaftler:innen. …zu wissenschaftlich plausiblen Ergebnissen An dieser Stelle greift dann das zweite System ein – das sogenannte „Reasoning System“, das zuvor mit einer Reihe grundlegender wissenschaftlicher Theorien und Gesetzmäßigkeiten gefüttert wurde und dann logisch herleiten kann, welche der entdeckten Gleichungen auch aus wissenschaftlicher Sicht heraus Sinn ergibt. So kann das KI-System durch die Kombination der beiden Ansätze sinnvolle Modelle für eine breite Palette von Anwendungen erstellen. Die Forscher:innen haben ihr System auf den Namen „AI Descartes“ getauft. Es unterscheidet sich grundsätzlich von generativen künstlichen Intelligenzen wie etwa ChatGPT, die sich primär an gängigen, häufig verwendeten Sprachmustern orientieren ohne dabei logisch vorzugehen. Dies ist auch der Grund, warum KI-Systeme wie ChatGPT an vielen mathematisch-wissenschaftlichen Fragestellungen scheitern und Antworten geben, die aus plausibel klingendem Unsinn bestehen. AI Descartes auf dem Prüfstand Um AI Descartes zu testen, haben die Forscher:innen dem System drei Aufgaben gestellt. Es sollte auf der Basis unbereinigter Daten sowie einer Reihe allgemeiner physikalischer Grundprinzipien drei zu ihrer Zeit bahnbrechende Erkenntnisse aus der Physik „wiederentdecken“, ohne die Gleichungen vorher zu kennen. Als erstes sollte das KI-System das dritte Keplersche Gesetz herleiten. Dieses beschreibnt die Bahnen und Umlaufzeiten von Planeten. „Diese Gesetz aus experimentellen Daten zu extrahieren ist anspruchsvoll, vor allem wenn die Planeten Massen sehr unterschiedlicher Größenordnungen haben„, so das Team. Es zeigte sich, dass AI Descartes der Herausforderung gewachsen war und die korrekte Formel finden konnte. Danach sollte das System die von Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie beschriebene Zeitdehnung erarbeiten. Diese besagt, dass sich für sich schnell bewegende Objekte die Zeit verlangsamt. AI Descartes gelang es zwar nicht, die entsprechende Gleichung aufzustellen, allerdings konnte es die Formel identifizieren, die dem Phänomen am nächsten kommt. Das System erkannte außerdem, dass die relativistische Physik und nicht die newtonsche zum Tragen kommt. Das Dritte Problem war die Formel zur Adsorption von Gasmolekülen an Oberflächen. Auf der Basis experimenteller Daten sowie der Erkenntnis, dass Feststoffe Gasen „Andockstellen“ anbieten, konnte das System eine Formel entwickeln, die beschreibt, wie viele Gasmoleküle das Material unter den konkreten Umständen des Versuchs bilden kann. Diese KI kann die Wissenschaft voranbringen Die Forscher:innen gehen davon aus, dass Systeme wie AI Descartes neue Möglichkeiten in der wissenschaftlichen Datenanalyse eröffnen werden und somit das Potenzial bieten, die Wissenschaft signifikant voranzubringen. Als nächsten Schritt will das Team dem System die Fähigkeit verleihen, das nötige Hintergrundwissen eigenständig anhand wissenschaftlicher Fachartikel zu erlernen. „Bisher brauchten wir Menschen, die die Axiome in formelle, computerlesbare Sprache übersetzen. In Zukunft möchten wir diesen Teil des Systems automatisieren, um mehr Bereiche der Wissenschaft und Technik abdecken zu können“ erklärt Tyler Josephson von der University of Maryland, einer der Koautoren der Studie. via SciTech Daily Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter