Querschnittlähmungen können nicht geheilt werden. Allerdings arbeiten Forscher:innen derzeit an einer digitalen Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark, die in Zukunft zum Einsatz kommen könnte, um gelähmten Patienten ihre Fähigkeit zum Gehen zurückzugeben. In einer Pilotstudie konnte das neue Implantat einem Patienten, der bereits seit zehn Jahren querschnittgelähmt war, ermöglichen, wieder aus eigener Kraft zu gehen und zu stehen – allerdings mit Krücken. Die Stimulation durch die implantierten Elektroden unterstützte außerdem die Regeneration des geschädigten Rückenmarks, sodass der Patient nach der Behandlung auch bei ausgeschaltetem Gerät wieder gehen konnte. Bild: CHUV / Gilles Weber System überträgt Signale vom Gehirn an die Muskulatur Für die Bewegung der unteren Gliedmaße sind Signale des Gehirns nötig, die über das Rückenmark an die beteiligten Muskelgruppen gesendet werden. Wenn diese Verbindung beschädigt wird, können die Betroffenen die Muskelgruppen, die unterhalb der geschädigten Stelle liegen, nicht mehr angesprochen und entsprechend auch nicht mehr bewegt werden. Man spricht dann von einer Querschnittlähmung. Derartige Verletzungen können aktuell nicht geheilt werden, auch wenn es diverse experimentelle Ansätze gibt, um solchen Patient:innen zu helfen. Ein Team rund um Henri Lorach von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) in der Schweiz hat nun einen neuen Ansatz vorgestellt. „Wir haben eine drahtlose, digitale Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark entwickelt, die die natürliche Kontrolle über die Bewegungen der unteren Gliedmaßen wiederherstellt, um nach einer Lähmung aufgrund einer Rückenmarksverletzung auf komplexem Terrain zu stehen und zu gehen„, so die Wissenschaftler:innen. Das neue System wurde auch bereits getestet und im Rahmen einer klinischen Pilotstudie in einen Patienten implantiert. Dieser war zu Beginn der Studie 38 Jahre alt und seit einem Fahrradunfall zehn Jahre zuvor, bei dem die Halswirbelsäule verletzt wurde, querschnittgelähmt. Er hatte bereits zuvor an einer Studie teilgenommen, in deren Rahmen die Regeneration des Rückenmarks durch Elektrostimulation angeregt werden sollte. Für diese Vorgängerstudie wurden dem Patienten Elektroden ins Rückenmark implantiert, die es ihm ermöglicht haben, mit Hilfe eines Rollators wieder zu gehen. Allerdings machte seine Genesung keine weiteren Fortschritte. Der Patient entschied sich also, das System der Schweizer Forscher:innen zu testen. Drahtlose Übertragung Die Wissenschaftler:innen untersuchten zunächst mit Hilfe mehrerer Hirnscans, welche Regionen des Patienten besonders aktiv sind, wenn dieser sich vorstellt, seine Beine zu bewegen. Dort implantierten sie dann zwei kleine Platten mit jeweils 64 Elektroden, die die Signale des Gehirns erfassen sollten. „Dank Algorithmen, die auf Methoden der adaptiven künstlichen Intelligenz beruhen, werden die Bewegungsabsichten in Echtzeit aus den Gehirnaufzeichnungen entschlüsselt„, so Co-Autor Guillaume Charvet von der Universität Grenoble. Die Informationen, die aus den Signalen des Gehirns gewonnen werden, werden dann drahtlos an das Implantat im Rückenmark des Patienten gesendet und in Sequenzen elektrischer Impulse umgewandelt, die dann die Nerven des Rückenmarks stimulieren, um die Muskulatur im Bein anzusteuern. „Der Patient berichtet, dass die Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle eine natürliche Kontrolle über die Bewegungen seiner Beine ermöglicht, um zu stehen, zu gehen, Treppen zu steigen und sogar komplexes Gelände zu durchqueren„, so das Team. Regeneriertes Rückenmark Zusätzlich zu der eigentlichen Funktion des Systems stellte das Team einen weiteren Effekt fest. „Die durch die Schnittstelle unterstützte Neurorehabilitation verbesserte auch die neurologische Genesung. Der Patient erlangte die Fähigkeit zurück, mit Krücken zu gehen, selbst wenn das Gerät ausgeschaltet war. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Herstellung einer kontinuierlichen Verbindung zwischen Gehirn und Rückenmark die Reorganisation der restlichen neuronalen Bahnen fördert, die diese beiden Regionen unter normalen physiologischen Bedingungen miteinander verbinden„, so die Forscher:innen. Das System wurde bisher nur an einem einzigen Patienten getestet. Das Team geht allerdings davon aus, dass es breite Anwendung bei gelähmten Menschen finden könnte. „Das Konzept einer digitalen Brücke zwischen Gehirn und Rückenmark verspricht eine neue Ära in der Behandlung von motorischen Defiziten aufgrund neurologischer Störungen„, schreiben die Autor:innen. Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter