Die Ergebnisse der sogenannten „Heinsberg-Studie“, in der ein Team rund um den Virologen Hendrick Streeck von der Universität Bonn die Verbreitung des Corona-Virus im Ort Gangelt im Landkreis Heinsberg untersuchen wollte, wurden mit Spannung erwartet. Nun haben die Wissenschaftler die Ergebnisse der viel diskutierten Studie veröffentlicht. In Gangelt haben sich demnach etwa 15 Prozent der Anwohner mit dem Virus infiziert – dies entspricht einer Verfünffachung der bisher durch positive Tests erfassten Erkrankten. Heinsberg: Der ideale Corona-Hotsport Der Landkreis Heinsberg im Bundesland Nordrhein-Westfalen war einer der ersten Corona-Hotspots während der Pandemie. Bereits Ende Februar 2020 kam es dort nach Karnevalssitzungen zu einem starken Ausbruch. Offiziellen Daten der Gesundheitsämter zufolge haben sich im Rahmen dieses Ausbruchs etwa drei Prozent der Einwohner der Gemeinde Gangelt mit SARS-CoV-2 infiziert. Diese Gemeinde wurde von einem Team rund um Hendrick Streeck als Model für die Untersuchung der Verbreitung des Virus ausgewählt. „ Weil es sich hier um eine relativ geschlossene Gemeinschaft mit wenig Tourismus und Reisen handelt, kann diese Gemeinde als ideales Modell dienen, um zu verstehen, wie sich SARS-CoV-2 ausbreitet, wie viele infizierte Symptome entwickeln und wie hoch die Letalität ist„, erklärt Studienleiter Streeck. Das Team wählte mit Hilfe des Melderegisters 600 der 12.000 Einwohner von Gangelt aus und bat sie mitsamt ihrer Familien um Mithilfe bei der Studie. Letztendlich nahmen 919 Teilnehmer aus insgesamt 405 Haushalten an der Studie teil. Alle Teilnehmer wurden in der Woche ab dem 31. März 2020 mit einem PCR-Test auf das Coronavirus getestet. Außerdem führten die Forscher Antikörpertests durch, mit denen bereits überstandene Infektionen nachgewiesen werden können. Die Teilnehmer füllten weiterhin einen umfassenden Fragebogen aus, in dem es unter anderem um Symptome, Kontaktpersonen und Vorerkrankungen ging. Aussagen über Dunkelziffer und Todesrate „ Unsere zufällig ausgewählte Stichprobe ergab, dass rund 15,5 Prozent der Einwohner in dieser Gemeinde mit dem Virus infiziert sind oder waren. Das ist um das Fünffache höher als die offiziell gemeldete Zahl der bei PCR-Tests positiven Fälle“ fassten die Forscher ihre Ergebnisse zusammen. Auch in Gangelt, einem Ort, in dem weitaus engmaschiger getestet wurde als im Rest der Republik, fiel die Dunkelziffer der Infizierten demnach recht hoch aus. Was die eigentliche Durchseuchung angeht, ist Gangelt indes nur bedingt repräsentativ. Die Karnevals-Sitzungen gelten als sogenannte „Superspreading“-Ereignisse und resultierten in einer überdurchschnittlichen Zahl an SARS-CoV-2-Infektionen. Die Forscher ermittelten auch die sogenannte Infektionssterblichkeit (IFR). Diese ergibt sich aus dem Anteil der Todesfälle unter den Infizierten und liefert Hinweise darauf, wie tödlich das Virus ist. Die Todesrate geht weltweit bisher nur auf Schätzungen zurück, da die gemeldeten Covid-19-Fallzahlen nicht die reale Zahl der Infizierten wiedergibt. Die Kenntnis der Infektionssterblichkeit ist daher von besonderer Wichtigkeit. In Gangelt betrug diese nach den von den Wissenschaftlern ermittelten Daten bei 0,37 Prozent. Wenn man diese Todesrate zugrunde legt, ergibt sich für ganz Deutschland auf Basis der bisher an Covid-19 verstorbenen Patienten eine Zahl von etwa 1,8 Millionen infizierten, was verglichen mit den offiziell gemeldeten Fällen eine Verzehnfachung darstellt. 22 Prozent haben einen symptomlosen Verlauf Unter den mit SARS-CoV-2 infizierten Bürgern von Gangelt durchlebten den Daten von Streecks Team zufolge 22 Prozent einen asymptomatischen Verlauf, hatten also keinerlei Symptome von Covid-19. „ Dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Krankheitssymptome verläuft, legt nahe, dass man Infizierte, die das Virus ausscheiden und damit andere anstecken können, nicht sicher auf der Basis erkennbarer Krankheitserscheinungen identifizieren kann„, so Martin Exner von der Universität Bonn, der an der Studie beteiligt war. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, wie wichtig die allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln während der Pandemie sind. „ Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen. Das müssen wir uns bewusst machen und uns auch so verhalten„, erklärt Exner. Die Teilnehmer der Karnevalssitzungen, die sich dort mit dem Virus infizierten, zeigten indes deutlich öfter schwere Symptome. Die Forscher vermuten, dass das vermehrte Singen und Sprechen auf den Events für eine erhöhte Virenlast gesorgt hat. Ansteckungsgefahr in Haushalten relativ wenig erhöht Die Forscher konnten auch erste Schlüsse auf die Ansteckungsgefahr in Haushalten ziehen. Dort würde man eigentlich eine recht hohe Ansteckungsrate erwarten. Allerdings sei der Anstieg der Sekundärinfektionen in Haushalten eher gemäßigt, so die Forscher. Zwar gäbe es ein erhöhtes Risiko, dieses sei aber nicht so hoch, wie eigentlich erwartet werden könne. Konkret steigt das Risiko für eine gesunde Person um 28 Prozent, wenn in einem Zwei-Personen-Haushalt eine Person mit dem Virus infiziert ist. Addiert man das Ansteckungsrisiko von 15 Prozent hinzu, das in Gangelt jeder hat, ergibt sich so eine Übertragungswahrscheinlichkeit von 43 Prozent. In einem Drei-Personen-Haushalt beträgt die Wahrscheinlichkeit 35 Prozent, in einem Haushalt mit vier Personen sogar nur 18 Prozent. Eine Erklärung für dieses unerwartet niedrige Risiko haben die Forscher bisher nicht. In einer Haushaltsstudie bei Corona-Familien kamen chinesische Forscher allerdings zu einem ähnlichen Ergebnis. Vorläufige Auswertung ohne Peer Review Bei diesen Ergebnissen handelt es sich nur um eine vorläufige Auswertung der Studie. Die Untersuchungen sind auch noch nicht den Peer-Review-Prozess durchlaufen, wurden also noch nicht unabhängig begutachtet. Dennoch lassen sich aus der Studie Anhaltspunkte über die Verbreitung von SARS-CoV-2 und die damit verbundene Dunkelziffer ablesen. Derzeit wertet das Team weitere Daten aus Gangelt aus. Die Forscher wollen unter anderem die Infektionswege nachverfolgen, die auf den Karnevalssitzungen begannen. Auch die Rolle von Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen bei der Schwere der Verläufe sollen untersucht werden. via Universität Bonn Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter
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