Momentan nimmt das öffentliche Leben in Deutschland langsam wieder Fahrt auf. Viele Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 wurden oder werden wieder gelockert. Der Shutdown der letzten Monate bringt dennoch viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen mit sich. Das bringt die Frage mit sich: Waren diese Maßnahmen wirklich nötig? Forscher des Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation haben sich dieser Frage angenommen und kamen zu einem recht deutlichen Ergebnis. Corona-Epidemie wird in vier Phasen unterteilt Die Maßgabe, die mit den diversen Lockdown-Maßgaben einherging, war klar: Die Ausbreitung des nicht ganz korrekt als „Coronavirus“ bezeichneten Virus sollte verlangsamt werden, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Und tatsächlich blieb die befürchtete große Welle der Infizierten aus. Zuweilen hört man nun aber Zweifel daran, ob die Maßnahmen in dem Zusammenhang überhaupt nötig waren oder die Epidemie möglicherweise grundsätzlich weniger dramatisch ausgefallen wäre, als anfänglich befürchtet wurde. Das zugrundeliegende Problem wird als Präventionsparadox bezeichnet: Es liegt in der Natur der Sache, dass die Wirksamkeit präventiver Maßnahmen ohne eine Kontrollgruppe nur sehr schwer überprüfbar ist. In Deutschland ergibt sich diesbezüglich aber eine besondere Situation: Das öffentliche Leben wurde in drei Schritten heruntergefahren, was es ermöglicht, die Wirkung der einzelnen Lockdown-Pakete nachzuvollziehen. Dies haben Forscher rund um Jonas Dehning vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen nun getan. Das Team führte eine Studie durch, in welcher sie die gemeldeten Covid-19-Fallzahlen in Deutschland in vier Phasen aufteilten und miteinander verglichen. Die einzelnen Phasen waren der Beginn der Epidemie ohne Maßnahmen, nach der Absage öffentlicher Veranstaltungen um den 08. März herum, nach der Schließung von Bildungseinrichtungen und vieler Geschäfte am 16. sowie nach der weitreichenden Kontaktsperre vom 22. März. Die Wissenschaftler analysieren die Ausbreitung des Virus Selbstverständlich berücksichtigten die Forscher für ihre Analysen die Verzögerung, die sich durch das deutsche Meldesystem ergibt. Hier nahmen sie im Mittel fünf bis sechs Tage für das Auftreten erster Symptome sowie zwei bis drei Tage für den Erhalt des Testergebnisses an. Die Fallzahlen wurden dann mit Hilfe eines epidemiologischen Modells ausgewertet und die Forscher ermittelten die Ausbreitungsrate des Virus anhand mehrerer Kennzahlen wie etwa der Reproduktions- und Wachstumsrate. Bei der Reproduktionsrate handelt es sich um einen Wert, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Verlauf seiner Erkrankung ansteckt. Eine Reproduktionszahl von eins entspricht damit also einer gleichbleibenden Fallzahl. Die Wachstumsrate hingegen wird aus der Zahl der Neuinfektionen abzüglich der Zahl der Genesenen gebildet. Ist sie größer als Null, dann steigen die Fallzahlen exponentiell an. Liegt sie unter 0 gehen die neuen Fälle zurück. Maßnahmenpakete waren wirksam Das Ergebnis der Forscher ist deutlich: „ Wir haben klare Belege für drei Veränderungspunkte im Epidemieverlauf gefunden„, erklären die Forscher. Am 07. März 2020 kam es zum ersten Wendepunkt, bei dem sich die Wachstumsrate halbierte. Der Termin stimmt mit dem Datum der ersten Maßnahmen durch die Regierung überein, die mit einer erhöhten Vorsicht seitens der Bevölkerung einherging, verursacht von den teils dramatischen Nachrichten aus Italien. Die zweite Stufe folgte um den 16. März herum: „Dieser zweite Change Point passt zum Timing des zweiten Maßnahmenpakets, bei dem Schulen und einige Geschäfte geschlossen wurden„, erläutern die Wissenschaftler. Zu diesem Zeitpunkt sank die Wachstumsrate auf knapp über Null. Am 24. März folgte dann der nächste Einschnitt in den Fallzahlen. Das Datum ist mit den Schließungen nicht essentieller Geschäfte sowie der Kontaktsperre in Verbindung. Nach diesen Maßnahmen sank die mittlere Wachstumsrate unter Null, die Neuinfektionen gingen also zurück. Den Forschern zufolge ist die Sache damit relativ klar: Die Maßnahmenpakete der Regierung zeigten eine deutliche, nachvollziehbare Wirkung. „ Wir haben nach jeder dieser Maßnahmen und der entsprechenden Verhaltensänderung der Bevölkerung eine deutliche Reduktion der Ausbreitungsrate festgestellt. Unsere Ergebnisse zeigen aber auch, dass das volle Ausmaß der Maßnahmen nötig war, um das exponentielle Wachstum zu stoppen„, erklärt das Team. Müssen wir nach den Lockerungen mit einer zweiten Welle rechnen? Nach Ansicht der Forscher waren die schmerzhaften und einschränkenden Maßnahmen der letzten Monate also wirksam und somit nötig. Fraglich ist nun, wie sich die Lockerung dieser Maßnahmen auswirken wird. Eine klare Antwort darauf fällt derzeit noch schwer. „ Die ersten Effekte der Lockerungen vom 20. April sehen wir erst seit Kurzem in den Fallzahlen. Und bis wir die Lockerungen vom 11. Mai bewerten können, müssen wir ebenfalls zwei bis drei Wochen warten„, so Michael Wilczek, der an der Studie beteiligt war. Deswegen wertet das Team auch weiterhin die tagesaktuellen Fallzahlen aus und versucht zu erkennen, ob wir mit einer zweiten Coronawelle rechnen müssen. Entwarnung kann keinesfalls gegeben werden. Die Entwicklung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 in der Zukunft ist maßgeblich von dem Umgang der Gesellschaft mit Abstandsempfehlungen und Hygienemaßnahmen ab. via MPI für Dynamik und Selbstsorganisation Teile den Artikel oder unterstütze uns mit einer Spende. Facebook Facebook Twitter Twitter WhatsApp WhatsApp Email E-Mail Newsletter