Wir sehen einer Zukunft ohne Eis entgegen. Okay, das ist wohl etwas drastisch ausgedrückt. Aber zumindest mit weniger Eis. Der Klimawandel wird in den nächsten Jahrzehnten zu mehr und mehr Gletscherrückgang führen, wodurch große Gebiete frei von Eis werden werden. Diese Vorgänge könnten Flächen von der Größe Finnlands freilegen, was zu einer erheblichen Verschiebung von Ökosystemen führen würde. In dieser Verschiebung lägen allerdings nicht nur Probleme, sondern auch Chancen.


Gletscher gehen rapide zurück

Noch nie war der Rückzug der Gletschermassen auf unserem Planeten schneller als heute. Jahr für Jahr gehen hunderte Milliarden Tonnen Eis verloren. Bis 2100 könnte sich die Gletscherfläche im Vergleich zu heute halbiert haben. Diese Gletscherschmelze wird nicht nur vom Klimawandel verursacht, sie heizt diesen auch gleichzeitig weiter an. Denn die abgetauten Flächen reflektieren deutlich weniger Strahlung als die Eisflächen, die sie vorher bedeckt haben. Hinzu kommt, dass die freigewordenen Flächen das Treibhausgas Methan freisetzen.


Ein Team rund um Jean-Baptiste Bosson vom Konservatorium für Naturräume in Annecy in Frankreich haben untersucht, wie die Welt aussehen könnte, wenn ein Großteil der Gletscher geschmolzen sind. „Die Eismassen sind gut untersucht, weil sie Schlüsselindikatoren für die Klimaentwicklung sind. Aber unsers Wissens existiert bisher abgesehen von einzelnen Flächen oder Regionen keine globale, quantitative und systematische Analyse zur Ökologie der vom Gletscherrückzug freigelegten Flächen„, erläutern die Forscher:innen.

Computermodelle berechnen die Zukunft

Um einen Blick auf die Zukunft ohne Gletschereis werfen zu können, nutzen die Wissenschaftler:innen ein Computermodell der weltweiten Gletscherentwicklung. Mit diesem modellierten sie die Veränderungen, die die großen Eiskappen Grönlands sowie die in der Antarktis liegenden Gletschergebiete bis zum Jahr 2100 durchlaufen werden. Insgesamt geht es dabei um eine Fläche von etwa 650.000 Quadratkilometern, die aktuell von Eis bedeckt ist. Danach setzen sie ein weiteres Modell ein, mit dessen Hilfe sie berechneten, welche Bedingungen auf den dann freigelegten Flächen herrschen werden und welche Ökosysteme auf ihnen entstehen könnten. Diese Modellrechnungen führten die Forscher:innen für verschiedene Klimaszenarien durch – vom Erreichen von Netto-Null-Emissionen bis 2050 bis hin zu einer Verdreifachung der Treibhausgas-Emissionen bis 2075.

Im Ergebnis zeigte sich, dass selbst in dem Szenario, in dem wir bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen, die Gletscherflächen um etwa 22 Prozent kleiner werden würden. Sollten sich die Emissionen bis 2075 verdreifachen, wäre danach etwa die Hälfte dieser 650.000 Quadratkilometer zur Hälfte frei von Eis. Je nach Szenario könnten zum Ende des Jahrhunderts also Gletschergebiete abschmelzen, die so groß wie Nepal oder gar Finnland sind. Dabei wären Alaska und das asiatische Hochgebirge besonders drastisch betroffen.

Chancen auf neue Ökosysteme

Dieser Eisrückgang könnte allerdings auch Chancen beinhalten. Aus den Modellrechnungen geht hervor, dass auf 78 Prozent der freigewordenen Fläche neue Landökosysteme entstehen würden. Etwa 14 Prozent der Fläche würden zu Meeresgebieten werden. Die restlichen acht Prozent würden von Süßwasser übernommen werden. Diese neue Ökosysteme würden verschiedene ökologische Bedingungen bieten, die von extrem bis mild reichen würden.

In Gebieten, die auch nach dem Schmelzen der Gletscher im Zukunft eher kalt bleiben, könnten verdrängte, an Kälte angepasste Arten eine neue Heimat finden. In anderen Gebieten könnten sich Arten der gemäßigten Breiten ansiedeln, die ebenfalls durch den Klimawandel aus ihrer ursprünglichen Heimat verdrängt wurden.

Ehemalige Gletscherflächen als Kohlenstoffsenken

Doch nicht nur das. Die ehemaligen Gletscherflächen könnten auch den Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel zugute kommen, indem sie durch Prozesse wie die Entstehung neuer Böden oder die Photosynthese-Aktivitäten neuer Wälder als Kohlenstoffsenken fungieren. „Wir haben berechnet, dass die Böden aller neu entstehenden Landgebiete zwischen 45 und 85 Millionen Tonnen Kohlenstoff speichern könnten. Das entspricht dem Kohlenstoff, der in 2.200 bis 10.600 Quadratkilometern tropischem Tieflandregenwald gespeichert ist„, so die Forscher:innen.

Allerdings betonen sie auch, dass diese möglichen positiven Folgen die Menschheit nicht davon entbinden, sich um die Erhaltung möglichst vieler Gletschergebiete zu bemühen. Die Funktion solcher Gletscher sei für das globale Klima nicht zu ersetzen.

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